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Durch den variablen Verlauf einer ALS ist es für Mediziner schwierig, die wichtigen Befunde aussagekräftig zu kombinieren. So wurde bereits seit Ende der 1980er Jahre hinreichend dokumentiert, dass bei ALS Patienten eine Veränderung im Zusammenspiel zwischen sympathischen und parasympathischen Nervensystem existiert, was bisher von Medizinern jedoch weitestgehend ignoriert wird. Die Regulation des Blutdrucks scheint hierbei in besonderer Weise betroffen zu sein, denn Bluthochdruck kommt bei einer ALS im Vergleich zu Kontrollgruppen signifikant seltener vor. Der Blutdruck wird durch Signale der Barorezeptoren zu einem bestimmten Bereich des Gehirns geleitet, der Medulla oblongata. Hier entspringt die Pyramidenbahn und der Nervus hypoglossus, welcher die Muskulatur der Zunge innerviert. Es mag für einen Mediziner Zufall sein, dass sowohl die Pyramidenbahn als auch die Zungenmuskulatur ein pathologisches Hauptziel bei einer ALS darstellt. Zudem werden hier über die Darm-Gehirn-Achse durch den Nervus vagus Informationen über den Ernährungszustand verarbeitet. Ebenso mag für den Mediziner der Muskelschwund an den Händen bei einer ALS zufällig sein. Die Muskulatur an den Händen aktiviert bei Benutzung besonders massiv das sympathische Nervensystem, welches den Blutdruck reguliert. Es fallen also bei einer Vielzahl der ALS Fälle zunächst die Muskeln aus, welche bei aktiver Arbeit den Blutdruck maßgeblich beeinflussen. Darüber hinaus mag für den Mediziner die Wirkung des Medikaments Riluzol unbekannt sein, welches allerdings Bluthochdruck induziert. Auch dass Aspirin die Lebenserwartung bei einer ALS dramatisch senkt ist für einen Mediziner nicht zu verstehen, dabei moduliert Aspirin den Metaboreflex, welcher den Blutdruck über das sympathische Nervensystem reguliert (s. unten). Es ist an dieser Stelle festzuhalten, dass es die eine ALS nicht gibt. Für die Ausprägung einer ALS muss es zahlreiche Auslöser geben, und ebenso zahlreiche Wirkmechanismen. Hier wird lediglich eine dieser vielen Möglichkeiten diskutiert. In Zukunft muss deshalb eine Klassifizierung stattfinden, um welche ALS es sich bei jedem Patienten genau handeln könnte.

 

Die wichtige zu stellende Frage an dieser Stelle ist: Wenn das sympathische Nervensystem bei einer Amyotrophen Lateral Sklerose aktiver ist, wieso ist der Blutdruck nicht erhöht?

 

Die Antwort lässt sich in folgender Weise herleiten: Ein arbeitender Muskel aktiviert den Metaboreflex. Dieses System ist notwendig, um den Muskel bei Beanspruchung mit ausreichend Sauerstoff für die Energiegewinnung durch seine Mitochondrien zu versorgen. Unter anderem kommt es als Reaktion zu einem Blutdruckanstieg und einer Konstriktion der Blutgefäße, was den Blutfluss erhöht. Diese Antwort wird durch die Aktivität des sympathische Nervensystems und dessen Vermittler Adrenalin sowie Noradrenalin angetrieben. Sobald der Muskel arbeitet, bekommt er also über das Blut mehr Sauerstoff angeliefert und kann diesen Sauerstoff auch aufnehmen, u.a. weil sich lokal der pH-Wert verändert und weil die Affinität von Aktzeptoren für Sauerstoff erhöht wird. Sauerstoff ist quasi energiereich und hat in den Mitochondrien die besondere Tendenz, freie Radikale zu bilden. Diese Radikale würden die Zelle schädigen, wenn das nicht durch die Wirkung der sogenannten Entkoppler verhindert werden würde. Der arbeitende Muskel muss also abwägen, ob er den Sauerstoff zur Energiegewinnung benutzt, oder ob die Gefahr durch Zellschäden größer ist und daher entkoppelt werden soll. Im Prinzip halten sich diese beide Optionen im gesunden Menschen die Waage. Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass bei der gesteigerten Energiegewinnung durch die Mitochondrien konsequenterweise auch vermehrt Radikale entstehen. Um diesen Sachverhalt zu verstehen, genügt es einer genaueren Herleitung, die hier aus Platzgründen fehlen soll, allerdings in "The Origin of Amyotrophic Lateral Sclerosis" erläutert wird. 

 

Bei einer ALS funktioniert diese Regulation der Energiegewinnung durch die Mitochondrien jedoch nicht. Der Muskel zeigt bereits eine verstärkte Aktivität seiner Entkoppler, ohne dass ein verstärkter Bedarf dafür besteht. Dadurch sinkt der potentielle Energiegehalt und die Fähigkeit, über den Sauerstoff und in den Mitochondrien neue Energie zu bilden. Als Folge signalisiert der Muskel über den Metaboreflex und dem sympathischen Nervensystem der Medulla oblongata, mehr Sauerstoff heranzuschaffen, um das Energiedefizit auszugleichen. Das passiert permanent, was zu einer Überreizung des sympathischen Nervensystems führt. Wenn vermehrt Entkopplung stattfindet, wird zeitgleich über andere Stoffwechselwege versucht, das Energiedefizit zu beheben, beispielsweise auch durch eine verstärkte Fettverbrennung. Daher sind ALS Patienten in der Regel schlank, weil sie vermehrt Fette zur Energiegewinnung heranziehen. Da der Muskel bereits entkoppelt und im Ruhezustand keinen erhöhten Bedarf für den herangeschafften Sauerstoff hat, muss er fortlaufend entkoppeln. Das ist die Entgleisung, welche die Entstehung einer ALS herbei führt, denn ein Energiedefizit in dieser Art und Weise kann niemals kompensiert werden, da Mitochondrien der Hauptentstehungsort der zellulären Energie sind. Im Prinzip alle Substanzen, welche im Verdacht stehen eine ALS auszulösen, sind Entkoppler. Hierzu zählen insbesondere Schwermetalle wie Cadmium oder auch einige Dopingmittel wie Dinitrophenol. Es soll hier auch erwähnt werden, dass Schilddrüsenhormone unter bestimmten Bedingungen das Entkoppeln induzieren, so dass der bei einer Schilddrüsenüberfunktion zu beobachtende Muskelschwund ebenso erklärbar wird. Muskelschwund kann auch beobachtet werden, wenn ein Mensch über längere Zeit hungert. Und genau das ist, was im Skelettmuskel bei einer ALS passiert: er verhungert.

 

Alternative Energiequellen wie das Creatinhydrat haben sich aus diesem Grund als hilfreich erwiesen, ebenso die Zufuhr bestimmter Aminosäuren, welche im Hungerzustand im Skelettmuskel abgebaut werden, um als Energiequelle zu dienen. Allerdings muss hier kritisch angemerkt werden, dass bei einer anhaltenden mitochondrialen Fehlfunktion respektive Entkoppeln das ADP-ATP-Verhältnis verändert wird. Da Creatinhydrat intrazellulär phophoryliert werden muss um als Energiespeicher zu funktionieren, kann das nicht optimal oder sogar gar nicht mehr geschehen, je nachdem wie stark das ADP-ATP-Verhältnis bereits geschädigt worden ist.

 

Die Antwort auf die oben gestellte Frage lautet also: Der dominante Metaboreflex, welcher fortlaufend durch die Muskeln und dem sympathischen Nervensystem angesteuert wird verhindert, dass insbesondere der arterielle Baroreflex den Blutdruck ankurbeln kann. Daher ist in ALS Patienten der Blutdruck i.d.R. nicht erhöht und kann auch nicht angepasst werden beispielsweise nachweisbar durch den Schellong Test. Eine Steigerung des Blutdrucks durch gewisse Substanzen oder per se ist bei einer Amyotrophen Lateral Sklerose immer mit einer besseren Prognose verbunden. Das liegt daran, dass ein gesteigerter Blutdruck ein Indikator ist, dass die Ursachen dieser Entgleisung offensichtlich bekämpft oder inhibiert werden, was die Progression der ALS verlangsamen kann. Daher wirkt Riluzol/Rilutek in gewisser Weise positiv. Auch die Tatsache, dass Frauen weniger von einer ALS betroffen sind als Männer könnte an der Modulation des Baroreflexes, ein "Gegenspieler" des Metaboreflexes, durch Östrogen zurück zu führen sein.

 

Einige Formen der ALS entstehen durch Mutationen in der Funktion von sogenannten SODs. Diese Enzyme sind notwendig, um Radikale zu bekämpfen. Bei einer reduzierten Aktivität der SODs steigt automatisch die Gefahr, dass verstärkt entkoppelt wird. Daher können Mutation in SODs eine ALS ausprägen. 

 

Risikofaktoren für die Entstehung einer Amyotrophen Lateral Sklerose und Möglichkeiten der Therapie

 

Sollte sich die hier vorgestellte Hypothese in zukünftigen klinischen Studien beweisen lassen, muss getestet werden, welche Substanzen die Progression einer Amyotrophen Lateral Sklerose verhindern können. Zur Zeit existiert keine Therapie, welche die Progression einer ALS signifikant unterdrücken kann.

 

Die Kernfrage lautet dann: Wie kann ich die Überreizung des sympathischen Nervensystems durch den Metaboreflex ausschalten?

 

Mögliche Angriffspunkte bilden sich aus den beteiligten Systemen. Das Hauptziel vermag das Entkoppeln in den Muskelzellen sein, eine Kombination aus allen Angriffspunkten erscheint allerdings wahrscheinlich. 

 

I) Der verstärkt entkoppelnde Muskel

Günstige Auswirkungen: Es existieren Substanzen, welche das Entkoppeln der Mitochondrien inhibieren können wie beispieslweise Genipin, welches in Extrakten aus Gardenienfrüchten enthalten ist. Auch der amerikanische Ginseng enthält noch nicht genauer identifizierte Substanzen, welche das Entkoppeln inhibieren. Zudem kann wie oben hergeleitet Kreatin als alternative Energiequelle nützlich sein, da Muskelschwund insbesondere ein Symptom eines Muskels im Hungerzustand ist. Kreatin ist eine alternative Energiequelle. Ob allerdings Genipin oder Ginseng günstig wirken, muss in der Grundlagenforschung erarbeitet werden.

Risikofaktor: Zu vermeiden sein sollten Anwendungen, welche nachweislich das Entkoppeln induzieren. Hierzu zählt insbesondere die Elektrotherapie nach einer Muskelverletzung sowie zeitnahe körperliche Ertüchtigung.

 

II) Der dominante Metaboreflex

Günstige Auswirkungen: Koffein hat einen direkten Einfluss auf die Stärke des Metaboreflexes, weil es dessen Mediatoren inhibiert. Die Kühlung eines Muskels bewirkt eine Reduktion des Metaboreflexes.

Risikofaktoren: Aspirin hat den gegensätzlichen Einfluss. Auch Gewichstverlust führt dazu, dass der Metaboreflex sensibilisiert wird, was die Prognose bei einer ALS verschlechtert.

 

III) Das zu stark aktive sympathische Nervensystem

Günstige Auswirkungen: Physiologisch ist es sehr schwer, hier überhaupt einzugreifen. Klassische Musik inhibiert dieses System ebenso wie häufiges gähnen, allerdings nur in sehr mäßigem Umfang. Der ACE Hemmer Benazepril hat diesbezüglich einen Einfluss auf das sympathische Nervensystem, jedoch moduliert er auch den Blutdruck. Daher muss der Einsatz dieser Substanz näher diskutiert werden.  

Risikofaktoren: Wärme steigert die Signale des Muskels an das sympathische Nervensystem. Aufregung und Stress liefern über Adrenalin und Noradrenalin negative Faktoren.

 

Es verbleibt abschliessend zu vermerken, dass Studien an Nagetieren keineswegs nützlich sind und zu kontroversen Ergebnissen führen, welche falsche Hinweise liefern. Nagetiere kontrollieren insbesondere ihre Motorik nicht extrapyramidal, so wie es der Mensch tut. Daher sind die Einflüsse auf die Medulla oblongata und die Auswirkungen im Menschen nicht durch Tierversuche zu reproduzieren. So zeigt beispielsweise Aspirin einen positiven Einfluss in SOD mutanten Mäusen (einem Modell für Amyotrophe Lateral Sklerose), und Koffein einen negativen Einfluss, also im Prinzip genau das Gegenteil der Situation im Menschen. Das ist mit ein Grund, wieso die Medizin diesbezüglich auf der Stelle tritt.

 

Referenzen

Da die Zitate bzw. Quellenangaben sehr umfangreich sind, möchte ich auf meine bisherigen Publikationen unter dem Punkt "neurodegenerative Erkrankungen" verweisen, wo die entsprechenden Zitate leicht gefunden werden können. Der hier vorgestellte Text soll "allgemeinverständlich" und gut lesbar sein. Für detaillierte Auskünfte oder für Diskussionen stehe ich allerdings auch gerne per Email zur Verfügung.

Hypothese zur Entstehung einer Amyotrophen Lateral Sklerose

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